Generische Webmethoden
Im Zuge der Ausdifferenzierung der Webwissenschaft zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin stehen zwei Dimensionen bisher im Fokus webwissenschaftlicher Forschung:
- Einerseits gibt es die klassische computerwissenschaftliche Perspektive, eingerahmt durch das „Framework for Webscience“ von Tim Berners Lee und anderen1, in dem das Erkenntnisinteresse webwissenschaftlicher Forschung vor allem intrinsisch der Optimierung des Webs gilt. Geistes- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen kommen in diesem Dokument von 2008 zunächst nur nachrangig vor, indem sie unter „Soziale Aspekte“ subsumiert werden.
- Demgegenüber steht die kommunikations- und medienwissenschaftlich geprägte Idee vom Web (und dessen Content) als Untersuchungsgegenstand, also von einem Medium, welches mit klassischen Ansätzen des Faches hinsichtlich seiner Wirkung, seiner Ästhetik, seiner Nutzung, seiner Geschichte usw. evaluiert werden kann.2
Mit der zunehmenden Transformation des Webs zu einem „Ort“ sozialer Interaktion liefert es jedoch für immer mehr Disziplinen „Beobachtungsmaterial“ und ermöglicht Rückschlüsse auf Sozialverhalten und Lebenswirklichkeiten – davon ausgehend, dass „Das Virtuelle“ und „das Reale“ nicht mehr länger getrennte Parallelwelten und direkte Rückschlüsse vom Web auf die Gesellschaft daher zulässig sind.3 Begünstigt wird diese Entwicklung und das damit verbundene erhöhte Erkenntnisinteresse unterschiedlicher Disziplinen durch die Menge an verfügbaren Nutzerdaten, die oft beiläufig – eben durch die Webnutzung an sich – produziert und durch verschiedene Forschungsvorhaben abgerufen werden können.4 Richard Rogers bezeichnet den Einsatz solcher im Web geborenen Methoden als Natively Digital Methods5. Die präziseste deutsche Übersetzung ist generische Webmethoden.
Dem Untersuchungsgegenstand folgen
Die Hinwendung zu Daten, die im Web produziert werden, und Methoden, die im Web geboren sind, geschieht in den unterschiedlichsten Disziplinen; mithilfe dieser Methoden werden zum Beispiel soziologische, kulturanthropologische, ethnografische, kommunikationswissenschaftliche und informationswissenschaftliche, aber auch epistemologische und andere philosophische sowie politikwissenschaftliche Fragestellungen beantwortet, und entsprechend divers sind die zugrunde gelegten Forschungstraditionen. Die verbindende Komponente der Erforschung des Webs als Interaktionsraum besteht also in der Methodik, die immer entlang der besonderen Eigenschaften des Webs geformt wird; Rogers bezeichnet dies als „thinking along with the devices“6 oder „dem Medium folgen“7.
Anwendungsbereiche generischer Webmethoden
Eine erste Systematisierung8 der von Rogers gesammelten Forschungsprojekte zeigt bereits sechs Themengebiete, die das Web als Quelle einsetzen, um Erkenntnisse über soziale Strukturen zu erhalten:
- Entstehung und Veränderung von Netzwerkstrukturen (Verlinkungen und daraus resultierende latente Beziehungen, Messung von Datenströmen zur Sichtbarmachung von flüchtigen, temporären Beziehungen, Verbreitungswege von Information)
- Lokalisierung von „Offline-Phänomenen“ im Web (Vorhersagen und Hypothesen durch regionales Suchverhalten, Agenda Setting im Web)
- Geografie der Zensur (Aufspüren geblockter Knotenpunkte oder vom weltweiten Netz getrennter Orte; nationale Grenzen des World Wide Webs)
- Inhalte im Web (Radikalisierung politischer Sprache; Veränderung von Sprachkultur)
- Veränderungen kultureller Ästhetikbegriffe (Visuelle Änderungen von Webangeboten über die Jahre)
- Suchmaschinen als Gatekeeper (Unterschiede in Suchmaschinenresultaten als Indikator für Unterschiede in Kulturen und Gesellschaftsthemen; Gewichtung und Abstrafung von Quellen in Suchergebnissen)
Rogers selbst schlägt eine Einteilung der digitalen Methoden in fünf Bereiche vor:
- „Link und Web Space“
- „Search Engine Analysis“
- „Social Media Research“, auch „Postdemographics“
- „Websites als archivierte Objekte“
- „Wikipedia als kulturelle Referenz“
Eine vollständige Systematisierung des Instrumentariums, der Forschungserträge und Perspektiven der generischen Webmethoden steht noch aus. Es liegt auf der Hand, diese Metastudie nun weiterzuführen und auszuweiten, um ein umfassendes Bild der generischen Webmethoden inklusive ihrer Anwendungsgebiete zu zeichnen.
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1 Berners-Lee, Tim et al. 2006: A Framework for Web Science. In: Foundation and Trends in Web Science Vol. 1, No. 1, S. 1-130. Hier S. 71 ff
2 Vgl. Volpers, Helmut 2008: Warum und zu welchem Zweck benötigen wir eine Webwissenschaft? In: Webwissenschaft – Eine Einführung. Hg. v. Konrad Scherfer. Berlin: Lit , S. 31-51. www.die-netzberater.de/de/wp-content/uploads/2012/03/Volpers_Webwissenschaft..pdf
3 Rogers, Richard 2011: Das Ende des Virtuellen. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft Nr. 2, S. 61-77. Hier: S. 64 www.govcom.org/publications/full_list/Rogers_ZfM5_2011.pdf
4 Studien, die Webnutzungsdaten zugrunde legen, können diese sowohl ad hoc selbst sammeln, zum Beispiel durch den Einsatz eines selbst programmierten Crawlers für Linkanalysen, als auch auf vorhandene Daten von Webdienst-Anbietern zurückgreifen, zum Beispiel das regionale Aufkommen bestimmter Suchphrasen in Google oder die Revisionshistorie bzw. die verschiedenen Länderversionen eines Wikipedia-Artikels. Aus wissenschaftlicher Sicht ist dabei problematisch, dass die Nutzungsdaten häufig nicht unter Creative-Commons-Lizenz der Allgemeinheit zur Verfügung stehen, sondern man von (gefilterten) Daten kommerzieller Anbieter anhängig ist.
5 Vgl. Rogers, Richard 2013: Digital Methods. Cambridge: The MIT Press. S.1
6 ebd. S.1
7 Vgl. Rogers 2011. S. 64
8 Schmitz, Miriam 2014: A Formalization of the »Digital Methods« – Supporting Comprehensible Access to the Novel Web Science Research Field. S. 77. urn:nbn:de:hbz:832-epub4-5745